Charleston, das Haus der Bloomsbury Group

by Marianne Kohler Nizamuddin, 10. Februar 2019

Das Bloomsbury Set gehörte zu den englischen Bohemians. So nannten sich die Künstler, Schriftsteller, Philosophen und Idealisten, die sich Ende des 19. Jahrhunderts der Gesellschaft entzogen und nach neuen Lebensformen suchten.  Bedeutende Mitglieder der Gruppe waren Virginia Woolf, Lytton Stratchey, E.M. Forster, Maynard Keynes, Duncan Grant und Vanessa Bell. Ihr Zuhause und Treffpunkt hiess Charleston, ein Landhaus in Sussex. Mit seinen dekorativen Malereien und dem künstlerisch improvisierten Einrichtungsstil ist es heute noch für viele eine Inspirationsquelle. Man kann es als Museum besuchen.

Das Haus Charleston war das Zuhause von Vanessa Bell, der Schwester von Virginia Woolf, ihrem Mann Clive Bell, ihrem Liebhaber Duncan Grant und dessen Lover David Garnett. Sie führten einen für die Bohemians typischen unkonventionellen Haushalt. Die Ehe von Vanessa und Clive war eine offene, beide hatten Liebhaber. Vanessa Bell hatte zwei Söhne von ihrem Mann Clive und eine Tochter Angelica, von Duncan,  welche Clive Bell als seine eigene anerkannte. Angelica heiratete später, zum Horror ihrer Eltern, Duncans Ex-Freund David. Bild über Charleston.

Alles ist gemalt

Vanessa Bell und Duncan Grant bemalten den ganzen Innenbereich des Hauses: Wände, Türen, Möbel und Wohnaccessoires. Beide arbeiteten zudem auf Auftragsbasis für den Omega Workshop, ein Projekt von Roger Fry, eines früheren Liebhabers Vanessas. Der Künstler und Kunstkritiker hatte mit Omega eine Designfirma gegründet, die Kunstgewerbe und Kunst anbot: Keramik, Textilien, Wandgemälde und ganze Inneneinrichtungen. Das Bild zeigt Vanessa Belles Badezimmer, über Virginia Nicholson.

Charleston ist nun ein Museum

Das idyllische Haus Charleston kann man heute als Museum besuchen und gar als Fotolocation buchen. Was von aussen wie eine Kulisse für einen gemütlichen Miss-Marple-Film aussieht, ist ein Gesamtkunstwerk, das zeigt, wie eine Gruppe von Menschen vor etwa 100 Jahren nach neuen Lebensformen suchte. Sie waren alle im viktorianischen Zeitalter geboren und aufgewachsen in üppigen, dunklen, überfüllten, repräsentativen Räumen. Die Gesellschaftsformen waren streng und persönliche Freiheit praktisch inexistent. Kein Wunder, fanden Künstler und Intellektuelle keinen Platz und suchten nach Neuem. Sie erfanden ein Land der Freiheit und nannten es Bohemia, nach dem Heimatland vieler Fahrender, die damals mit ihren farbigen Kleidern und bunten Wagen durch England zogen. Diese Farbenfreude und der Look der Zigeunerkleider war denn auch Inspiration für die Künstler. Die Bohème war durch Normverstösse in ihrer Lebensführung Rebellion. Die Bloomsbury Group war da sehr früh und ganz vorne mit dabei. Bild über Charleston.

Ein Bild aus den 30er-Jahren, das wichtige Bloomsbury-Mitglieder zeigt. In der Mitte sitzt Virginia Woolf, rechts von ihr der Ökonom Maynard Keynes. Auf der anderen Seite sitzt ihre Schwester Vanessa Bell zwischen Clive und Angelica. Bild über Charleston.

Das Haus der Kreativität

Der Einrichtungsstil von Charleston musste anders sein, als die düsteren, steifen viktorianischen Räume. Mit wenig Geld und viel Talent war Farbe für die Künstler, die das Haus bewohnten, das Naheliegendste. Vanessa Bell und Duncan Grant verzierten das Haus und bemalten Tapeten, Paravents, Stuckaturen, Fenstersimse, Türen, Schränke, Stühle, Tische, Decken.Bild über Charleston.

Dekoration und Kunst verfliesst in Charleston zu einem Gesamtkunstwerk

Der Bloomsbury Circle war gedacht als eine Gruppe von Freunden, die Ideen austauschen, Zeit miteinander verbringen und Neues kreieren. Die Mitglieder der Gruppe wollten informell und freundschaftlich verbunden sein. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Idealen bei denen Position, Einschränkung, Status und Erfolg ausschlaggebend waren, setzten sie auf  persönliche Beziehungen, Nähe, Gefühle, Freude und Genuss. So brachen sie möglichst viele Tabus, manche auch auspragmatischen Gründen, denn Sie hatten oft eingeschränkte Möglichkeiten. Trotz allem Sinn für Schönheit und Ästhetik stand Waschen und körperliche Hygiene zum Beispiel nicht auf ihrer Favoritenliste. Die Männer liessen sich Haare und Bärte wachsen, die Frauen trugen ihre langen Haare offen oder schnitten sie kurz  zu einem Bob. Weite, bunte Röcke und Schals waren beliebt. Männer trugen oft Ohrringe, man ging barfuss, in Espadrilles oder Sandalen. Frauen begannen Hosen anzuziehen und Männer versuchten es mit Röcken. All das in einer Zeit, in der die noch Frauen der guten Gesellschaft noch Korsetts trugen und sich mehrmals am Tag umziehen mussten. Zum Beispiel sinnierten sie täglich in Abendkleidern und absolut durften keine Haut zeigten. Die Bohemiens waren die Vorbereiter des individuellen Stils. Mode wurde mit ihnen zum  Ausdruck der Persönlichkeit – eine Möglichkeit zu zeigen, dass man anders war als die Masse. Bild über Charleston.

Wandelnde Innendekorationen

Das galt auch für den Wohnbereich. Da viele Künstler und Schriftsteller Werke produzierten, die damals niemand wollte, prägte meist der Geldmangel den Lebensstil. In schwer heizbaren Räumen ohne warmes Wasser und Elektrizität war Kreativität und Improvisation gefragt. Bohemiens wohnten oft auf kleinem Raum oder im Atelier, in dem sie auch malten oder als Bildhauer arbeiteten. Das war in Charleston nicht so stark der Fall, da Clive Bell Einkommen aus einem Vermögen hatte. Aber auch in Charleston wurde gearbeitet, gezeichnet, gemalt und geschrieben. Hühner raten durch den Garten und manchmal ins Haus. Die Bloomsbury Group wertete dekorative und bildende Kunst gleich. So benutzten die  beiden Maler Vanessa Bell und Duncan Grant  das Haus Charleston sozusagen als Leinwand. Ihr Stil war geprägt vom Impressionismus und Fauvismus. Ihre Innendekoration ergänzten sie laufend. Kunstgegenstände und Prototypen fanden einen Platz auf Kamin- und Fenstersimsen, an den Wänden oder auf Regalen. Handgedruckte, gestickte oder gewobene Textilien wurden als Bezugstoffe für Sessel und Sofas eingesetzt. Bild über Charleston.

Vanessa Bell blieb bis zu Ihrem Tod in Charleston wohnen. Auch Ihr Sohn Quentin wohnte und arbeitete in Charleston als Töpfer, Künstler und Autor. Der ältere Sohn Julian starb im spanischen Bürgerkrieg 1937. Duncan Grant überlebte Vanessa Bell und hielt das Haus noch eine Weile, bis es ihm zu gross wurde. Heute ist Charleston eine Stiftung und wird als Kulturdenkmal erhalten.

Detail einer Tür, die Vanessa Bell bemalt hat.

Buchtipp

Lesen Sie mehr über Charleston und den Bloomsbury Circle im Buch von Charleston.

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Marianne Kohler Nizamuddin


Marianne Kohler Nizamuddin ist Stylistin und Journalistin. Sie begann ihre Karriere als Textildesignerin und arbeitete in Paris und New York, bevor sie einige Jahre das Moderessort der Zeitschrift «Annabelle» leitete. Heute arbeitet sie in den Bereichen Styling, Creative Direction und Consulting. Zudem ist sie die Autorin von Sweet Home, dem meist gelesenen Interior-Blog der Schweiz, der fünfmal in der Woche auf Tagesanzeiger/Newsnet erscheint. Marianne Kohler Nizamuddin lebt mit ihrem englischen Mann David und ihrem Hündchen Miss C. in Zürich.